Meinen Augenöffner in Sachen Nachbarschaftspflege verdanke ich einer Gemeinde in Baden-Württemberg, für die wir 2010 ein ambitioniertes Bauprojekt planten. Auch bei späteren Projekten habe ich häufig einen blinden Fleck in diesem Bereich bemerkt. Daher versuche ich Gemeinden schon ganz früh in unserer Zusammenarbeit für ihr nachbarschaftliches Verhältnis zu sensibilisieren.
Eine Gemeinde kann die besten Absichten haben und doch ihre Anwohner über Jahre nerven
4Wände erarbeitete damals ein Gebäudekonzept für diese wachsende Gemeinde, das wir im Vorfeld mit dem Bauamt abgesprochen hatten. Wie üblich wurden dann der gestellte Bauantrag und die öffentlichen Belange in einer Stadtratssitzung behandelt. Doch auf einmal legte der für unseren Stadtteil zuständige Stadtrat – vielleicht waren es auch mehrere – sein Veto ein.
Warum? Diese Gemeinde hatte die Geduld der Anwohner schon zu häufig auf die Probe gestellt. Zu viel Verkehrschaos. Zu viel Lärm. Das Maß war voll. Es sei nicht hinzunehmen, dass durch die räumliche Erweiterung der Gemeinde die Belastung für die Nachbarn noch weiter zunähme, hieß es. Und tatsächlich: Die Gottesdienstbesucher kamen aus dem Umkreis von 50 km, wodurch ca. hundert Fahrzeuge konzentrisch den Bereich um die Versammlungsstätte zuparkten. Die gemeindeeigenen Parkplätze hatten längst nicht mehr ausgereicht.
Aus Sicht der Nachbarn aber fielen Heuschreckenschwärme in die Region ein
Und machten sich auf jeder noch so ungeeigneten Abstellfläche breit. Hauptsache, man schaffte es halbwegs pünktlich in den Gottesdienst und musste nicht allzu weit laufen. Etwas rücksichtslos blockierten manche Fahrzeuge auch die Einfahrten der Anwohner oder sie pflasterten die Straße so zu, dass nur noch eine Spur befahrbar war. Und dann auch noch diese Beschallung! Großzügig versorgte die Gemeinde ihre Umgebung mit entsprechendem Sound, der es dank der großartigen PA-Anlage auf Lautstärken von 90-100 Dezibel brachte.
Auch die beste Wand konnte diese Schallwellen-Überdosis nicht aufhalten
Ich stelle mir das bildlich vor: Man hat es sich gerade gemütlich gemacht, frühstückt im Pyjama auf der Terrasse oder liegt noch im Bett. Endlich Sonntag, endlich Ruhe! Und dann das. Pauken und Trompeten oder vielmehr E-Gitarre und Drums, die man einfach nicht abschalten kann. Sind auch noch die Kirchenfenster geöffnet, bei 200 Leuten durchaus sinnvoll, ist nachvollziehbar, dass die Nachbarn sich gestört fühlen, wenn sie nicht zur Gemeinde gehören.
Über die Jahre waren diese Anwohner also ganz schön frustriert worden, und dies entlud sich in geballter Form bei der Stadtratssitzung. Damals wurde mir zum ersten Mal so richtig klar, dass wir als Gemeinde die Bedürfnisse unserer Nachbarschaft nicht ausklammern sollten. Wir können nicht erwarten, dass uns unsere Nachbarn, die wir über Jahre nervlich strapaziert haben, plötzlich wohlgesinnt sind, wenn wir bauen wollen. Saat und Ernte.
Was tun? – Gemäß des Prinzips des Beziehungskontos handeln
Ich sprach mit den Verantwortlichen der Gemeinde darüber, dass es wie bei einem Soll- und Haben-Konto auf der Bank auch bei den Beziehungen zu unseren Nachbarn wichtig ist, positiv einzuzahlen. Da gibt es viele Möglichkeiten: Durch Hilfsbereitschaft, interessiertes Nachfragen, ob alles in Ordnung ist, oder durch eine kleine Aufmerksamkeit zu Weihnachten etc.
Jede Beeinträchtigung der Nachbarn werten wir als Abbuchung. Was bleibt unterm Strich? Wenn über die Jahre fast nur abgebucht wurde, entsteht ein enormes Minus. Nur mit großer Anstrengung kann man dieses Konto wieder ausgleichen. Sinnvoller ist es, regelmäßig einzuzahlen oder zu zubuchen, damit die Abbuchungen nicht so sehr ins Gewicht fallen.
Was aber, wenn die Zeit drängt?
In unserem Fall überlegten wir, wie wir in kurzer Zeit wieder Vertrauen aufbauen können. Wir entschieden uns für zwei Maßnahmen:
- Ein Parkierungskonzept erarbeiten
Wir wollten herausfinden, wo im Umkreis von 500 m offizielle Parkplätze sind, die man sonntags benutzen kann. Wir fanden Supermärkte und andere gewerbliche Abstellflächen und holten die entsprechenden Genehmigungen dafür ein. Eine den Veranstaltungsbesuchern ausgehändigte und auch in der Gemeinde aufgehängte Übersichtskarte mit diesen Parkmöglichkeiten sowie ein Lotsensystem half hier enorm. Die Nachbarn registrierten dieses deutliche Signal sofort. Und die Parkierungskarte reichten wir prompt zu den Bauantragsunterlagen nach.
- Nachbarn und Stadtrat einladen und Redezeit geben
Die Gemeinde organisierte eine Info-Veranstaltung für ihre Nachbarn. Tatsächlich waren einige gekommen und konnten sich endlich Luft machen über ihre Sorgen, Nöte und Wünsche. Beispielsweise, was zukünftig in Bezug auf den Schallschutz berücksichtigt werden soll. Zudem war auch der Stadtrat eingeladen worden, der opponiert hatte. Auch er kam vorbei. Bestimmt half die persönliche Einladung und dass ihm Redezeit eingeräumt worden war, damit auch er seine Bedenken äußern konnte.
Nachdem ich die Baupläne, den Stand der Entwicklung und das Vorhaben vorgestellt hatte, sammelten wir alle Bedenken und nahmen dazu Stellung. Als wir die geplanten Maßnahmen zum Thema Schallschutz präsentierten, konnten wir schon viele Bedenken entkräften.
Insgesamt wurde diese Info-Veranstaltung sehr positiv aufgenommen, wohl auch deshalb, weil sie von einer starken Gebetsinitiative von Seiten der Gemeinde begleitet wurde.
Die Beziehungs-Investitionen zahlten sich aus
Im anschließenden Verhandlungsprozess machte uns die Baubehörde ein Schallschutz-Gutachten zur Auflage. Daraus leiteten wir Maßnahmen ab, die schließlich den Schallschutz für die Anwohner deutlich verbesserten. Zwar hatte sich dieser Prozess über zwei bis drei Monate hingezogen und den Baubeginn sogar um sechs Monate verzögert, aber letztendlich war diese Zeit wertvoll, weil sich die Nachbarn mit ins Boot genommen fühlten.
Das alles führte dazu, dass schließlich die Baugenehmigung erteilt wurde. Obwohl heute bedeutend mehr Menschen den Gottesdienst besuchen als früher, ist die Beziehung zu den Nachbarn besser denn je. Dieses Beispiel finde ich echt ermutigend, weil es zeigt, wie wichtig es ist, den Allernächsten wirklich ernst zu nehmen.